Banf – wie SAP so etwas wie ein Lemma schuf
Zu all den Aspekten, die ein ERP-System wie das von SAP umfasst, gehört ganz offensichtlich das Materialmanagement oder auch die Logistik. Jeder Kunde von SAP, der sich mit dem Ein- und Verkauf, der Lagerung und der Verwaltung physikalischer Waren und Materialien auseinandersetzt, kommt unweigerlich mit SAPs eigener branchenspezifischer Nomenklatur in Berührung. Dank Terminologiemanagement bedeutet das auch, dass diese Nomenklatur über längere Zeit weitestgehend konstant bleibt.
Ein zunächst unscheinbarer Begriff aus der Terminologiewelt von SAP erzählt bei genauerem Hinsehen eine etwas ungewöhnliche Geschichte: Gemeint ist die Bestellanforderung oder kurz Banf. Über Jahre hinweg begleitete mich diese Abkürzung während meiner Zeit bei einem Unternehmen, das SAP als zentrales ERP-System nutzt. Heute bin ich Projektmanager und Übersetzer im Auftrag von SAP und sehe den Begriff aus einer anderen Perspektive, die ich hier erläutern möchte.
Aus Versehen Akronym
Was genau ist eine Bestellanforderung? In SAPs Terminologiedatenbank SAPterm ist der Begriff offiziell mit folgender Definition zu finden:
„Aufforderung an den Einkauf, ein Material oder eine Dienstleistung in einer bestimmten Menge zu einem bestimmten Termin zu beschaffen.“
Auf gut Deutsch: eine Einkaufsliste(nempfehlung). Nun ist der Begriff relativ lang, zu lang für Schaltflächen oder Kurztexte auf einer Benutzeroberfläche wie der von SAP. Deswegen stehen zwei gängige Abkürzungen zur Verfügung: Banf und BANF. Geübte Übersetzer wissen jedoch, dass beide Varianten streng genommen den Standards widersprechen. Da es sich bei dem Wort um ein Kompositum handelt, müsste der Anfangsbuchstabe eines Bestandteils als Binnenmajuskel geschrieben werde, wenn der vorangegangene Bestandteil abgekürzt wurde. Ferner soll die Abkürzung mit einem Punkt gekennzeichnet werden, es sei denn, der letzte Buchstabe ist der gleiche wie in der ungekürzten Variante. Korrekt wäre also „BAnf.“.
Dieser Umstand ist zwar für Übersetzer und Entwickler relevant, für die meisten anderen Menschen jedoch ist das überflüssiges Fachchinesisch. Dennoch hat es, so vermutet der Sprachwissenschaftler in mir, einen entscheidenden Einfluss darauf, wie die Abkürzung wahrgenommen wird. Zur Verdeutlichung:
„BAnf.“ ist offensichtlich eine Abkürzung, denn Binnenmajuskel und Punkt lassen sich nur schwer mit unserer Idee eines graphemischen Worts vereinbaren. Aus dem gleichen Grund nehmen wir Abkürzungen wie q.e.d., Tel. (Telefon), ARD oder USA tendenziell eher als solche war, weshalb sie selten bis nie als [kɘt], [te:l], [ʔaʀt] und [ʔu:za] ausgesprochen werden. Dabei hätten all diese Wörter eine sehr deutsche Silbenstruktur und einen gewohnten Klang, siehe Fett, Mehl, hart und norddeutsch Ufer.
Banf jedoch hat eine ganz andere Dimension, denn es sieht schlicht und ergreifend aus wie ein deutsches Wort. Dazu kommt, dass wir Struktur und Klang von Wörtern wie Hanf, Senf und norddeutsch Kampf kennen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Banf und BANF nicht nur Abkürzungen, sondern auch zufällig hervorragende Akronyme sind – sie laden regelrecht dazu ein, als [banf] oder assimiliert [bamf] gelesen zu werden. Bei anderen Akronymen überwiegt diese Lesart sogar derart, dass ihre ursprüngliche Bedeutung oft in Vergessenheit gerät: Laser, ERASMUS, Radar oder BIOS. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, denn niemand spricht BAföG als [be:ʔa:fɶg(e:)] aus.
Ist das schon ein Wort?
Genug von Phonologie und Orthografiekonvention. Unsere Banf hat daneben noch eine besondere Eigenschaft: Sie ist morphologisch produktiv. Das bedeutet, dass sie wie jedes deutsche Lemma (oder Wortwurzel) an Wortbildungsprozessen beteiligt sein kann.
So ist für die Banf beispielsweise ein Plural dokumentiert:
Das Interessante daran? Laut Duden wird der Plural einer Abkürzung im Deutschen mit der Endung -s gebildet. Das gilt sogar für geläufige Akronyme wie Azubi. Sicherlich stammt die Pluralendung -en von der ursprünglichen Bestellanforderung, dennoch verleiht es der Banf etwas mehr Eigenständigkeit.
Der Eintrag aus dem SAP Help Portal verweist außerdem auf die nächste morphologische Fähigkeit der Banf: die Wortbildungsfähigkeit. Die in der letzten Zeile der Abbildung genannte Banfübersicht ist nur einer von vielen möglichen Neologismen, die mit Banf gebildet werden. Zugegebenermaßen kann hier mit reinem Pragmatismus argumentiert werden, denn ein Druckknopf mit der Beschriftung Bestellanforderungsübersicht ist keinesfalls benutzerfreundlich. Es wäre allerdings bei Weitem nicht das erste Mal, dass ein Sprachwandel aus rein pragmatischen Gründen herbeigeführt würde.
Nun ließe sich zu Recht behaupten, dies sei ein Einzelfall und sage noch nichts über den grammatischen Status der Banf aus. Deswegen begab ich mich auf die Suche nach weiteren Neologismen, zum einen auf dem SAP Help Portal, zum anderen in inoffiziellen, aber gut frequentierten Benutzerforen. Hier eine Übersicht über die Funde:
Banfobligo ist mein absoluter Favorit, denn ohne Kontext wäre es mir persönlich schwergefallen, dieses Wort überhaupt der deutschen Sprache zuzuordnen. Trotzdem hat es sich aus gutem Grund gegen seinen potenziellen Konkurrenten Bestellanforderungsverpflichtung durchgesetzt.
Banfen, BANFen, Banfdaten, Banfeinschränkungen – all diese Begriffe koexistieren im selben Fenster neben dem Ursprungswort. Das erweckt beinahe den Eindruck, als wäre Banf eher ein Synonym als nur eine Abkürzung der Bestellanforderung.
Weitere, mehrfach belegte Fälle sind: Banfpreis, Banfliste, Banfwert, Banfposition, Banfselektion, Banfstatistik, Banfkopf, Banfnummer und Banffreigabe. Die Liste ließe sich sehr wahrscheinlich lange fortsetzen. Unsere Banf scheint also ein verbindungsfreudiges Wortglied zu sein. Was bei dieser Suche nicht zutage kam, sind Komposita mit Binnenmajuskel, die jedes dieser Wörter haben müsste, solange die Banf als Abkürzung gewertet wird. Unter dieser Prämisse ist ein Wort wie Banfliste kein Kompositum aus Banf und Liste, sondern immer noch eine Abkürzung für Bestellanforderungsliste. Diese müsste jedoch gewissenhaft als BAnfListe ausgeschrieben werden. Aber auch an dieser Stelle scheint sich die pragmatischste Lösung durchgesetzt zu haben. Denn sobald ich aus der BAnfÜbersicht die BAnfDaten zur Prüfung einer BAnfFreigabe extrahiere, ist mein Kopf schnell mit anderen Dingen beschäftigt als mit Bestellanforderungen.
Das bemerkenswerteste Werkzeug im Repertoire der Banf ist allerdings das (denominalisierte) Verb banfen. Dieses Verb ist es, das ursprünglich meine Aufmerksamkeit auf den Begriff gelenkt hat, denn in meiner Zeit als SAP-Endbenutzer gehörte dieses Verb zum alltäglichen Sprachgebrauch.
Offizielle schriftliche Quellen sind bis auf den Infinitiv und das Partizip Perfekt gebanft leider rar gesät. Dennoch würde ich behaupten, dass die große Mehrheit der deutschsprachigen SAP-Endbenutzer diesen Begriff kennt und ihn verwendet. Es kann wie jedes andere Verb nach den Regeln der deutschen Sprache konjugiert werden und sogar präfigiert werden: herbanfen, ranbanfen, rumbanfen, durchbanfen, wegbanfen – sie alle haben feine Bedeutungsunterschiede und waren fester Bestandteil des Lexikons meiner SAP-Endbenutzergruppe. Hier sind zwei Definitionen inklusive Anwendungsbeispiele:
rumbanfen: Tätigkeit, bei der das Tagesgeschäft vernachlässigt wird, um sich der Fertigstellung benötigter Bestellanforderungen zu kümmern
– „Peter ist hinten im Lager, wahrscheinlich am rumbanfen.“
durchbanfen: Eine Bestellanforderung anlegen sowie Rücksprache mit dem Einkäufer halten, um sicherzustellen, dass sie möglichst umgehend in eine Bestellung umgewandelt wird:
– „Hast du die Sachen von dem Auftrag schon durchgebanft? Der Kunde hat es eilig.“
Diese Definitionen beruhen wohlgemerkt auf rein subjektiven Betrachtungen und sind wahrscheinlich auf eine übersichtliche Sprechergruppe beschränkt. Trotzdem ist das Verb bei genauer Betrachtung ein Indiz dafür, dass sich die Banf vom Status der Abkürzung gelöst hat. Man könnte sagen, dass es sich in einer Art lexikalischer Transitphase befindet. Es ist definitiv keine Abkürzung für Bestellanforderung anlegen oder *bestellanfordern (nicht belegt). Es ist ein Synonym, es wurde vom selben Ursprungswort abgeleitet, aber es sieht aus und verhält sich wie ein eigenständiges Lemma oder eine Wortwurzel.
Fazit
Die Banf verhält sich also nicht wie eine „normale“ Abkürzung in Bezug auf Schreibweise und Pluralbildung, sie bildet Komposita wie ein vollwertiges Substantiv und lässt sich als Verb konjugieren sowie modifizieren. Die Banf deswegen als eigenständiges Lemma zu bezeichnen ginge jedoch einen Schritt zu weit, zumal dieser Artikel auch keinen akademischen Anspruch hat. Gemessen am Grad seiner Selbstständigkeit und „Fähigkeiten“ ist es allerdings offensichtlich, dass der Begriff das Potenzial zu einem Eigenleben hat.
Wenn es sich hierbei also nicht um ein Plädoyer für die Banf als neues deutsches Wort handelt, wozu dann das alles? Um aufzuzeigen, dass Sprache unergründlich, skurril und faszinierend ist? Sicherlich – aber es gibt noch eine weitere Dimension. Ohne Terminologiemanagement, einheitliche Softwarelokalisierung und die (Nicht)Einhaltung von Standards wäre der Banf dieser auffällige Bedeutungswandel wohl nicht gelungen. Es kann also gesagt werden, dass die Tätigkeit von Übersetzern und Projektmanagern wie hier bei text&form manchmal mehr Einfluss auf das alltägliche Leben haben kann als zunächst erwartet.
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